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Alfred Lenz: Nichts geht verloren, nichts wird geschaffen, alles verwandelt sich

«Der geistige Gehalt schwebt nicht jenseits der Faktur, sondern die Kunstwerke transzendieren ihr Tatsächliches durch ihre Faktur, durch die Konsequenz ihrer Durchbildung.»
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 1970

«Das Gewöhnliche ist in gewisser Hinsicht unsichtbar, weil es gewöhnlich ist«
Steve Paxton, in Pastforward, 2001

Ausgehend von gefundenen Objekten, vergessenen Räumen und komplexen Mechaniken (Mechanismen), schafft Alfred Lenz kontextuelle technische Werkzeuge, die nicht nur die alltäglichen sozialen Zwecke/den alltäglichen sozialen Gebrauch der Technik hinterfragen, sondern auch ein Parallelsystem kreieren, wo dieses letztere eine andere grundlegende Rolle spielt.

I. Kontextuelle spielerische Werkzeuge

Die Arbeit von Alfred Lenz entfaltet sich nicht nur im Ausstellungsraum, sondern auch im Atelier, im Gebäude, im Haus, im Garten. Mit anderen Worten, in den Räumen, in denen er lebt und mit denen er eine tägliche oder weniger regelmäßige Beziehung pflegt, und die er gründlich kennt. Die phänomenologischen Gegebenheiten sind nur ein kleiner Teil der Gegebenheiten, die den Künstler im Vorfeld eines Werkes interessieren: Er versucht auch herauszufinden, was sich hinter einer Mauer, auf der anderen Seite eines Kaminschachts, in einem Loch, auf dem Dach eines Gebäudes versteckt und woraus die Mauern gebaut sind. Die unsichtbaren Leitungen wie zum Beispiel die Lüftungsleitungen sind die Basis seines jüngsten Werkes, einem Lüftungsanlageprovisorium in einer oberen Ecke eines Klassenzimmers der Universität für angewandte Kunst in Wien. Auf einer einfachen Ablage aus Holz sind Staubsauger, Kompressoren, Haartrockner und andere Geräte, um die Luft aufsaugen oder auch einblasen zu können. Wenn man es genau betrachtet, bemerkt man, dass die Kabel, die sie verbinden, in den Lüftungsrohren versinken/verlaufen. Und dann versteht man: Das Werk ist kein Schädling, im Gegenteil, es unterstützt das System, in das/dem es sich gerade - fast organisch - verpflanzt hat. Wenn man den großen roten Knopf in Reichweite aktiviert, gerät der Mechanismus für einen gesamten Kompressionszyklus - mit der Vibration und der Lautstärke, die ihn begleiten - ins Laufen. Das Gemenge ist fast amüsant, die Maschinen agieren wie ein enormes Räderwerk der Neuzeit. Aber es bleibt bescheiden: Das Werk - vor Ort strukturell - welches absurderweise die Leistung des Systems verstärkt, lenkt dank der «Nebenwirkungen », die es verursacht, die Aufmerksamkeit vor allem auf das Triviale des Alltags. Wer würde sonst seine Augen auf das Lüftungssystem richten? Und wer würde noch das dumpfe Geratter hören, das es produziert? Was üblicherweise in der Energieberechnung als Abfall betrachtet wird, entwickelt sich bei Lenz zu dem Element, welches die Aufmerksamkeit ergattert, welches das Werk bezeichnet und ausmacht.
Seine Werke gehen aus einer Sichtbarkeit des Gewöhnlichen hervor: weder Formalisierung, die die nötige Ergonomie der neuen « Geräte »  überschreiten würde, noch Stilisierung: Alles ist leicht zweckentfremdet, jedoch nie donnernd. Virtuos verwandelt Alfred Lenz die alltägliche Technik, welche durch eine Art von verfälschter Offenkundigkeit definiert ist, die sie fast unsichtbar macht.
Die rotierenden Motoren der Hymnmachine sind durch eine ständige Hin und Her Bewegung beansprucht, projizieren jedoch berauschende Lichter an die Wand. Dank dieser reißt er das Alltägliche von seiner primären Funktion als « Domestizierung «  der Fremdartigkeit los, indem er alles vertraut macht, was in unseren Leben produziert wird, Vorfälle und Unfälle domestiziert und so unsere Existenzen und unsere Verunsicherung gegenüber der Welt erträglich macht. Das Alltägliche im Gegensatz begeistert und das überrascht.
Dank seiner perfekten Kenntnisse von technischen Verfahren, welche Elektrizität, Mechanik sowie fundamentale Physik verbinden, erschafft Alfed Lenz Chimären (Hirngespinste, Trugbilder) anhand von Objekten, Möbel und Maschinen des Alltags. Ein Bett wird zur künstlich bewegten Welle, sowohl Gemälde als auch Skulptur, des Künstlers Zéro würdig (Bed), ein Bücherregal wird zu einem kinetisch leuchtenden und musikalischen Objekt, das an Julio le Parc erinnert (Hymnmachine). Wenn Lenz die ursprüngliche Funktion des Objektes nicht wiederholt, das er zuvor dekontextualisiert hat (wie im Schornsteinfeger oder Lüftungsanlage), verleiht er ihm eine neue Dimension, die seine primäre Funktion einschränkt, wenn nicht gar unterbindet. Ein Bett, von dem nicht mehr als ein Rahmen bleibt, der die Streifen aus Schaumstoff stützt, die wie Wellen angetrieben werden, kann offensichtlich keine Schlafenden mehr aufnehmen. Aus funktioneller Sicht absurd hinterfragen die Objekte nicht nur die Verwandlung des Banalen durch die Kunst, sondern auch den Zweck der Technik: Dient diese in erster Linie dazu, so leistungsstarke Werkzeuge wie möglich zu produzieren oder dienst sie der künstlerischen Annäherung, welche das Verhältnis zwischen Mensch und Objekt, zwischen Objekten untereinander, zwischen Mikro- und Makrokosmos differenziert?
Die Arbeit wird von der Welt beherrscht, aus der sie stammt, und beherrscht diese im Gegenzug. Sie entflieht der Welt nicht und sie soll ihr auch nicht entfliehen, sonst hätte sie keine Aussage. Im Gegenteil, er experimentiert mit ihr auf eine visuelle, auditive und semiotische Weise.

II. Experimentelle technische Protokolle

Viele Werke sind experimentelle Protokolle (und vielleicht gleichzeitig ihre eigene ironische Version?), die die elementaren Regeln der Physik überprüfen. Was ist möglich, wie und warum? Hier die Addition zwei geradliniger Bewegungen, dort die Beugung von Licht. Diese Experimente kombinieren zur selben Zeit die Gesetze der Physik und optische Effekte, deren gleichzeitige Manipulation durch den Künstler die Wirklichkeit zu verwandeln scheint. Obwohl die Würfel und die Enten in Wirklichkeit eine Folge von schwachen geradlinigen Bewegungen beschreibt, nimmt das Auge darin nur die allgemeine Kreisbewegung wahr. Je methodischer die Werke sind, desto mehr gewinnt ihr enigmatischer Charakter an Erleichterung und desto besser funktionieren sie. Das ist der Fall bei den Deklinationen von Rainbow rund um die künstliche Nachahmung des Phänomens des Regenbogens. Oder bei Lüftungsanlageprovisorium.
Die verschiedenen Praktiken der Eingliederung und Imitation, der Umlenkung, der Umgehung, des Heimwerkens und der Ansammlung wiederholen sich im begeisternden Experimentieren mit weggeworfenen Materialien aus unserer technischen Gesellschaft und in der virtuosen Fähigkeit wie ein Erfinder heterogene Elemente zu kombinieren. Es ist die Kollision eines Beckens und eines Mischers, die Beugung schafft und in der Serie Rainbows mit dem Sprühwasser das Phänomen eines Miniatur-Regenbogens erzeugt. Die Logik scheint parataktisch mit der unveröffentlichten Annäherung zu sein, immer imstande in ihr Gegenteil umgekehrt zu werden, und deren Notwendigkeit ebenso überprüfbar wie schonungslos erscheint. Denn zur technischen Notwendigkeit kommt noch der Humor gegenüber Objekten des Alltags hinzu. Rainbow 5 wird nur von einem Kamin beobachtet, der zu einem Fernrohr geworden ist.
Ein mechanischer Tisch aus zwei senkrechten Achsen, die linear von zwei Motoren angetrieben werden, wird durch die Umwandlung von zwei geradlinigen Bewegungen in eine Drehbewegung zum experimentellen Instrument . Der Schnittpunkt der zwei Achsen, ein gelber Würfel durchbohrt mit Löchern, dank welcher sie auf einer Schiene gleiten können, ist mit Plastikenten in der selben Farbe verbunden. Sie sind es, die die endgültige Bewegung verwirklichen und dem Werk seinen Titel geben: Family.

III. « Enthüllen ». Diskret sichtbar machen

Der Künstler möchte sowohl die Vision einer neuen leichten Maschinerie fördern, als auch die Empfindlichkeit der Orte und der Momente durch Werke, die mit ihrer Umwelt interagieren, immer auf eine diskrete und einfühlsame Art und Weise, an der Grenze zur Inframince. Im Enchanted Tree dient ein Motor dazu, den Baum zu bewegen, mit welchem er verbunden ist, um eine leichte Bewegung des Windes im Laub zu simulieren. Jener bleibt jedoch unsichtbar. Nur die genaue und gleichzeitige Betrachtung der Umgebung mit den anderen regungslosen Bäumen erlaubt es, die Merkwürdigkeit zu erkennen und die Künstlichkeit des Phänomens wahrzunehmen. Der Künstler versucht in low economy eher Fragmente der Natur zu imitieren, als sie zu beherrschen. Seine Arbeit gibt sich mal wie eine Kreation, mal wie ein einfaches „Ausfindigmachen“. Rainbow 1, 2, und 3 sind eindeutig vom Künstler kreiert, wohingegen Rainbows 4 und 5, die es ebenso sind, nur das Werkzeug der Beobachtung von optischen Phänomenen zu sein scheinen, die schon existieren. Wenn er die mechanische Struktur seiner Arbeiten versteckt, ist es um die Sichtbarkeit des erfahrenen Phänomens zu erhöhen. Aber meistens geben die Vorrichtungen ihren „Trick“ zu sehen, denn es handelt sich dabei nicht darum, jemandem einen Zaubertricks glaubhaft zu machen; bei Alfred Lenz findet sich kein „suspension of disbelief“ (dt. „Aufheben der Zweifel“). Camouflage ist die Inszenierung des Scheiterns einer Person, die in einem Zylinder aus traubenfarbigen Ballons steckt, um im umliegenden Garten zu verschwinden. Lenz reaktiviert die Performance bei der Sezession, Altar der Urbanität und der wienerischen Kultur, wo sich der Performancekünstler dieses Mal unter goldfarbigen Ballons versteckt. Das Scheitern – entstehend durch das Paradoxon zwischen dem Titel des Werks und seiner Verwirklichung im Raum – ist ein Mittel um sich nicht ernst zu nehmen, aber auch um die demiurgisch allmächtige Eigenschaft des Künstlers anzuprangern. Dieser mäßigt die kindliche Hybris im Ursprung bestimmter Werke, wenn er versucht, einen Regenbogen zu schaffen, eine Tür oder einen Baum bewegen zu lassen, …
Alfred Lenz stoppt die Natur in ihrem Lauf nicht, aber er inspiziert und betrachtet sie wie ein Zusammenspiel von kalkulierbaren aber nicht weniger unvorhersehbaren Kräften und Energien. Man ist noch weit entfernt vom Projekt der Moderne mit seiner Mathematisierung der Wirklichkeit, vom geregelten Zuschnitt der Natur und von deren Unterwerfung unter ein Wissen, das zugleich Macht beansprucht. Der Künstler kritisiert - nicht zwangläufig bewusst - eine gleichgültige Ordnung gegenüber des sensiblen Reichtums der Natur und der Umwelt, ausgeführt durch eine allmächtige Technik des unendlichen Wachstums, der Produktion und des Konsums, um den Interessen des Kapitalismus zu dienen. Diese Logik, die schon von Adorno angeprangert wurde, ist diese einer vollkommen « verwalteten » Welt, « d.h. auf eine Art organisiert, dass niemand die Vereinheitlichung der Komponenten, die der technischen und wissenschaftlichen Hegemonie unterworfen ist, behindert «  (frei übersetzt). Im Gegenteil dazu setzen die experimentellen Geräte von Lenz den Akzent auf die Unvorhersehbarkeit und die Zirkulierung von Energien, Formen, Bildern und Techniken. Imitation, Ableitung, Deklination, Schleife werden in Beziehung zueinander gesetzt und in Umlauf gebracht. Doors verbindet durch ein System von Kabeln, Seilen und Rollen eine verwaiste Tür, die auf dem Dach eines Gebäudes angebracht ist, mit einer andern Innentür, die sich zwei Etagen darunter befindet. Die Türen sind voneinander abhängig und vor allem: Die Tür auf dem Dach – eine technische Version der Tür jenseits der kindlichen Märchen - scheint sich auf rätselhafte Weise zu öffnen und zu schließen.
Die Arbeiten von Alfred Lenz erbauen so ein System der Wahrnehmung der anderen Welt (wo der Effekt und seine Erklärung anstoßen) und dorthin eine Welt der Offenbarung der Struktur der Dinge. Die visuellen Effekte, leuchtend oder klingend kreiert, folgen den grundlegenden mathematischen Bewegungen: die Wellenbewegung, die sinusoidale Welle, die mathematische Folge, die man überall um uns herum wiederfindet, sowohl in der natürlichen als auch in der industriellen Umgebung. Außerdem bleiben die Objekte von Alfred Lenz sehr einfach und sind oft abgeleiten aus der Mechanik des Betriebs von Haushaltsgeräten und üblichen Industriegeräten, die der Künstler sorgfältig im Laufe der letzten Jahre analysiert hat. Die Kopplung von zwei Achsen die geradlinigen Bewegungen folgen ist in der Industrie beispielsweise weit verbreitet um präzise Schneidearbeiten auszuführen.
Alfred Lenz überträgt und übersetzt zwischen mehreren Kräften, mehreren Geschwindigkeiten, mehreren Zuständen, mehreren Bewegungen, mehreren Energien – und macht so das Unsichtbare sichtbar. Aus den Wellenbewegungen entsteht eine flüssige Qualität/Eigenschaft in Bed, eine Linie wird zu einem Kreis in Family. Nichts geht verloren, nichts wird geschaffen, alles verwandelt sich. Die Arbeiten sind sehr eng mit einem gegebenen Kontext verknüpft, aber sie sind deshalb nicht weniger transitorisch; Ihre grundlegenden Elemente sind wie Module, die man auseinander nimmt und anderswo wieder neu kombiniert, anders als die endgültige Form, die von der internen Logik der Arbeit abhängt und keine überflüssige Formalisierung erleidet. Seine Werke sind viel mehr Systeme als Artefakte, weder käuflich noch verwandelbar in ein Konsumgut, immer kurz vor dem Verschwinden stehend.

IV. Offenes Werk und Zauberlehrling : eine spielerische Willkür.

Die Arbeit von Lenz stellt eine « geregelte » Erfahrung des Kunstwerks in Frage. In Lüftungsanlageprovisorium wird der Betrachter, indem er den Knopf drückt, durch das Auslösen ein wenig aus der Fassung gebracht, aber vor allem durch die Dauer und Lautstärke des mechanischen Vorgehens und durch die Unmöglichkeit es zu stoppen.
Im Gegenteil, nichts passiert, wenn der Beobachter untätig bleibt. Die Technik hat also weniger eine instrumentale Mission, als mehr eine experimentelle und heuristische: Sie ist der Ort der unvorhersehbaren Erfahrung und der Verwandlung der Wirklichkeit, selbst minimal, selbst von kurzer Dauer, selbst zerbrechlich. Deshalb ist die sensorisch physische, emotionale und analytische Interaktion mit dem Betrachter notwendig: Die Arbeiten erfordern eine Versetzung, um sie in all ihrer räumlichen Ausdehnung zu betrachten, beziehungsweise eine Aktivierung durch den Beobachter, und immer wecken sie alle Sinne. Die Allgegenwärtigkeit des Klangs, egal ob es sich um den Lärm der Rotation, der Reibung, der Drehung oder der Luftverdichtung handelt, setzt den Zuschauer in einen sehr physischen Bezug zum Werk und erinnert daran, dass Alfred Lenz’ Interesse für die Technik und die Geräte auf (experimenteller) Musik basiert. Gerade darum führt das Experimentieren zu Entscheidungen, die manchmal einfach durch ihre Entfaltung im Kopf des Künstlers oder durch ihre Beziehung zu einer biographischen Vergangenheit, die geheim bleibt, begründet sind. Hymnmachine spielt die ungarische Hymne, Kirschbaumer, sein Sohn und Ich zeigt eine mysteriöse Kollusion/geheimnisvolle Absprache. Woanders hingegen gibt er einen Teil seiner Selbstkontrolle auf, indem er die endgültige Beschaffenheit dem Zufall überlässt. Die sich bewegende Masse von Mikroperlen aus Untitled (Wave) im Skulptureinstitut [sic] hätte sich auch anders entwickeln können. Es ist das Spiel der Macht über das Werk, das Lenz sich weigert zu spielen. Alfred Lenz schafft offene Werke, die nichts ausschließen. Dank dieser Öffnung wird der Betrachter eingeladen, seinen Bezug zur Technik, zum Alltag und zum Werk neu zu erfinden.  

Die ungezügelte Suche nach dem Nützlichen, nach dem All-Austauschbaren, der Ausplünderung aller Dinge zugunsten der flächendeckenden Vermarktung erschwert sich unter den Auswirkungen der Techno-Wissenschaft. Der unverkennbar technische Ruf nach instrumentalisierter Kreativität (Design, graphische Kunst) ist in diesen letzten Jahren explodiert. Die Arbeit von Lenz ist  gegen den Strich in einer Welt, die der wissenschaftlichen und technischen Rationalisierung unterworfen ist, gesteuert, vom utopischen Trieb ganz neue Formen zu kreieren, die im Stande sind, nicht entfremdete Beziehungen zwischen den verschiedenen Arten des Seins und zwischen den Arten des Seins und ihrer Umgebung zu vermitteln. Seine Maschinen haben den Anspruch, gegenüber ganz neuen oder unerwarteten Auswirkungen offen zu bleiben; Sie nehmen in einer Welt teil, die « unendliche Verfügbarkeit von Gruppierungen und Verbindungen bietet ».

Anne Faucheret / german translation Barbara Thaler
 

 

Alfred Lenz – Nichts bleibt wie es ist

Warum entwirft ein junger Künstler wie Alfred Lenz bewegliche Kunst? Es versteht sich von selbst, dass die statuarische Kunst klassischer Malerei und Bildhauerei auf das Ruhende und Abgeschlossene abzielte und damit auf die Gesetzmäßigkeit des Verbleibens und auf den Anspruch des Ewigen. Die kinetische Kunst brach diese Statik auf und überwand die Gattungskonventionen. Tommaso Marinetti und Umberto Boccioni schufen die Voraussetzungen, dass Bewegung und Geschwindigkeit zum Inbegriff des Fortschritts und des radikalen Bruchs mit den Traditionen wurde. Bewegung wurde zum autonomen ästhetischen Moment. Nach der Zäsur des Zweiten Weltkrieges, in den 1950er- und 1960er-Jahren, wurde das Kunstwerk in Bewegung versetzt, „um der Notwendigkeit zur Veränderung und zur Flexibilität eine Form zu verleihen“. Doch gerade im gegenwärtigen Zeitalter der Rastlosigkeit, in dem Geschwindigkeit und Hektik exorbitant zunehmen, fragt man sich, ob sich Kunst im „gefrorenen Augenblick“ als Gegenpol zu den extremen Zeitläuften nicht effektvoller behaupten würde. Warum also macht Alfred Lenz bewegliche Kunst?

Pontus Hultén hat in seiner Monografie über Jean Tinguely, einem der Hauptvertreter der kinetischen Kunst, gemeint, dass Maschinen, die Kunst erzeugen am innersten Kern unserer Zivilisation rühren, da sie die strukturelle Basis unserer industrialisierten Gesellschaft zur Schaffung von etwas Irrationalem ohne Gebrauchswert verwenden und damit das kapitalistische Effektivitätsprinzip unterminieren. Und der italienische Tausendsassa Bruno Munari formulierte bereits 1954 in ähnlicher Weise: Die Künstler „müssen die Anatomie und die Sprache der Maschinen kennen lernen, nur um diese dann zu verwirren, indem sie deren Funktionsweise gegen alle Normen gestalten und somit mit eben jenen Maschinen und unter Ausnützung deren Möglichkeiten Kunstwerke zu schaffen.“Es geht um die Zweckentfremdung unserer Alltagsgeräte, um die Rationalität der Industrialisierung und die Zurschaustellung ihrer Kehrseite mit den Mitteln der Irrationalität, um die den Maschinen eingeschriebene Kraft der Veränderung, um die Wiederverwertung des Ausgesonderten, um die Subversion der Eigenkonstruktionen, um den Hang zum Absurden und um die Wirkmacht der Poesie in Zeiten der Monitorisierung aller Lebensbereiche.

Charakteristisch für die Arbeiten von Alfred Lenz, und damit durchaus bei Tinguely anknüpfend, ist die Verknüpfung einer visuellen Ebene mit einer auditiven. Vor der VILLAWEISS hat der Künstler acht Schlagzeugbecken auf die Trommel einer Mischmaschine montiert, die sich ihrer Funktion entsprechend dreht, und den Wasserstrahl eines Gartenschlauchs darauf gerichtet („Rainbow Nr.2“, 2009). Durch den Wasserstrahl werden nicht nur die Schlagzeugbecken aktiviert, sondern es entsteht auch so etwas wie eine Wand aus Wasser. Bei Sonnenschein würde das Licht durch die Wassertropfen gebrochen und reflektiert und es würde jenes atmosphärisch-optische Phänomen entstehen, das wir als Regenbogen kennen. In der Nacht ist dieses Phänomen allerdings nicht möglich, daher projiziert Lenz, an der Stelle, an der das Phänomen stattfinden würde und vielleicht stattgefunden hat, das Bild eines Regenbogens auf die Wasserwand und simuliert somit das Naturereignis. Bei dem Bild handelt es sich um eine Abbildung aus der bevorzugten Referenzquelle des digitalen Zeitalters, nämlich aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Das spezifische Naturereignis wird durch das gemeine Abbild, die Realität durch die Virtualität ersetzt und die Projektion wird zu einer Reflexion unseres Verhaltens im digitalten Zeitalter: „Zeig mir einen Regenbogen!“ „Schau auf Wikipedia nach!“

Auf der linken Seite der VILLAWEISS ragt ein rund sechs Meter hohes Stativ zu der an der Außenwand befestigten Satellitenschüssel hoch(„Ohne Titel“, 2013). Auf dem Stativ ist eine Spiegelwand aus 18 Spiegelstreifen befestigt, die alle auf einer Achse gelagert sind, die über einen Elektromotor bewegt wird. Jeder Spiegelstreifen ist zudem auf einer Ellipse montiert, die alle leicht zueinander verdreht sind. Durch die Rotation entsteht so der Eindruck einer Wellenbewegung und der Betrachter, der zur Satellitenschüsseln hochblickt, sieht diese wellenartig verzerrt. Die Satellitenschüssel, die dafür konzipiert worden ist, über einen Spiegel Wellen zu empfangen, nämlich über den Parabolspiegel die elektromagnetische Wellen zu bündeln, wird durch einen Spiegel selbst zur virtuellen Welle. Durch die Spiegelwand vor der Antenne wird zudem auch das Rundfunksignal gestört und auf dem Flat-Screen im zweiten Stock des Gebäudes erscheint der Hinweis „Dienst nicht verfügbar“. Eine Welle reicht aus, um die uns zu Diensten stehende Technik außer Funktion zu setzen. Die für die VILLAWEISS neu entstandene Arbeit ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Reflexion unserer Mediengesellschaft mit der Satellitenschüssel als pars pro toto.

Alfred Lenz hat für die Ausstellung in Ligist auch ältere Werke modifiziert und adaptiert, so auch die Arbeit „Schornsteinfeger“ aus dem Jahr 2007. Er hat den markanten alten Herd im 1. Stock des Gebäudes bei Seite geschoben und seine Kunstmaschine an das Ofenrohr gestellt. Eine selbst gebastelte Konstruktion aus Holzbalken, einem Getriebemotor und einer Stahlbürste ersetzt den symbolträchtigen Rauchfangkehrer. In den Dimensionen annähernd lebensgroß besitzt auch der Schornsteinfeger von Alfred Lenz Fuß, Körper und Kopf, in dem der Motor eingebaut ist. Der Schornsteinfeger ist eine Reflexion über das Prinzip der Industrialisierung, in der einfachste Handgriffe eines Menschen an Maschinen übertragen werden. Schon Karl Marx hatte in seinem Kommunistischen Manifest (1848) konstatiert, dass der Arbeiter den Maschinen mehr und mehr nur noch zudiente, um schließlich ganz ersetzt zu werden. Entweder gleicht sich der Mensch über die Einbindung in maschinelle Abläufe selbst der Maschine an oder er wird von ihr überflüssig gemacht.

Schon Jean Tinguely, der sicherlich ein wesentlicher Impulsgeber für die Kunst von Alfred Lenz ist, setzte derartigen Versuchen der Konditionierung subversiv-humorvolle Arbeiten entgegen. 1974 hatte er in der Galerie Bischofberger in Zürich eine Ausstellung, der er den Titel „Debriscollages de Tinguely“ gab. Die Wortschöpfung setzt sich aus den französischen Begriffen „debris“ („Trümmer“) und „collages“ („Collagen“) zusammen und lässt phonetisch die „bricolage“ („Bastelarbeit“) mitschwingen, die das eigentlich laienhafte Basteln des Heimwerkers bezeichnet. Damit werden drei essentielle Aspekte nicht nur der Kunst Tinguelys, sondern auch Alfred Lenz’ betont: der Impetus der Avantgarde, neue Lösungsansätze für alte Problemstellungen zu entwickeln (die Technik der Collage war ein geschätztes Mittel der Moderne), die Ironie der künstlerischen Geste (der Abfall steht den gemeinen Vorstellungen von hoher Kunst diametral gegenüber) und die Ästhetik des Zusammengebastelten, die zusätzlich eine humorvoll-ironische Relativierung des Künstlers als Konstrukteur mit sich bringt, als welchen ihn die Avantgarde gefeiert hatte.

Alfred Lenz hat sich während des Studiums intensiv mit Kinetik und Robotik auseinandergesetzt, doch verwendet er kein High Tech für sein Schornsteinfegersubstitut, sondern konstruiert diese Funktionsprothese aus einfachsten Materialien. Das Verwenden von vorgefundenem Material und die sich daraus ergebende Ästhetik des Ärmlichen und Provisorischen ist ein weiteres Charakteristikum seiner Kunst. „Alles, was mich umgibt, ist Material, das ich mit unterschiedlichen Methoden verändern und neu kontextualisieren kann. Gefundenes, Geborgtes und Bestehendes werden zu einer Einheit. [...] Bestehende Löcher in Wänden werden miteinbezogen. Gefundene Holzstücke werden in ihren vorgegebenen Dimensionen und Farben eingesetzt. Orte und deren konkrete Gegebenheiten dienen oft als Ausgangspunkt meiner Vorhaben “Diese Arbeitsweise spiegelt zugleich auch immer den Prozess der Entstehung: die Bestandteile und die Konstruktion bleiben nach außen hin sichtbar und lesbar. Es gibt kein Mysterium in seiner Kunst, kein Geheimnis, dass es zu offenbaren gibt, nur eine subtile Poesie, die es zu erfassen und verinnerlichen gilt.

Im Hauptraum präsentiert Lenz zwei Arbeiten aus seiner neuesten Werkserie „Musikinstrumente“. Beim „Musikinstrument Nr. 2“ handelt sich wiederum um eine kinetische Installation, die Bild und Ton generiert. Als Ausgangspunkt – und dies veranschaulicht die Arbeitsweise von Alfred Lenz sehr gut – diente ihm ein altes Sofa, das jahrelang im Studio stand, bei dem er nur wusste, dass er eines Tages etwas daraus machen wollte, aber keine konkrete Vorstellung hatte, wie dieses „etwas“ aussehen würde. Für die Ausstellung begann er dieses Sofa sukzessive zu zerlegen und in Kombination mit einem Keyboard aus seiner Kindheit, einem Schlagzeugbecken, einer grundierten Leinwand, einigen CD-Rohlingen, einem Tennisball und weiteren Utensilien entstand eine Bild- und Tongenerierende Kunstmaschine, die vom Betrachter aktiviert und damit in Gang gesetzt werden muss. Der Betrachter ist nicht mehr passiver Rezipient, sondern aktiver Mitschöpfer am Werk, in dem er dieses in Gang setzt und durch seine Imagination vervollständigt. Über eine einzige Kurbel wird das Keyboard betätigt, die Lichtreflexionen auf die Leinwand gebannt und der Tennisball gegen das Schlagzeugbecken geschlagen. Eine einzige Rotationsbewegung setzt eine Vielzahl von Tätigkeitsfeldern in Gang, die eine synästhetische Dimension eröffnen, deren Koordinaten „das Absurde“, „die Poesie“ und „die Zeit“ heißen.

Das „Musikinstrument Nr. 3“ birgt ein Stück Familiengeschichte in sich. Die Utensilien, die er für dieses Werk zusammengetragen hat, stammen von verschiedenen Mitgliedern seiner Familie. Die Fliegenklatsche hat er von seiner Mutter, den Elektromotor von seinem Neffen, das Keyboard ist von ihm, die Staffelei stammt von seinem Vater, der bemalte Teddybär ist wiederum von seinem Neffen und das Kleid ist eine Ölmalerei von seinem Vater. Wiederum handelt es sich um eine Arbeit, die verschiedene Bild- und Klangebenen birgt und über die spezielle Funktion des Motors in Gang gesetzt wird. Stößt dieser in seinem Drehmoment auf Widerstand ändert er die Richtung. Damit wird die Aktivierung des Kunstwerks an den Zufall deligiert und der Betrachter wird Zeuge eines absurden Wechselspiels der beiden Klangerzeuger, nämlich des Keyboards und der Fliegenklatsche mit Glöcklein. Die beiden Bildebenen sind hingegen gute alte Handarbeit: es handelt sich um eine bemalte Leinwand seines Vaters und um einen bemalten Teddybären seines Neffen.

Tragen diese beiden Bildwerke noch eine individuell Handschrift ist bei seiner eigenen Bildserie („Freud“, 2008) die individuelle Künstlerhandschrift auf ein äußerstes Minimum reduziert.

Alfred Lenz hat in dem Wohnhaus Berggasse 19, in dem Sigmund Freud gelebt und gearbeitet hat, Leinwände durch die Kaminschächte gezogen und die Ergebnisse auf Keilrahmen gespannt. Der Künstler arbeitet hier stark mit den Elementen der Zeugenschaft und des kollektiven Bewusstseins, das es vermag, Sigmund Freud mit den 1930er-Jahren und mit Judentum und weiße Leinentücher mit Asche und der jüngeren österreichisch-deutschen Geschichte zu verknüpfen. Die Kraft der Bilder wird durch ihre Inszenierung des beiläufige „An-die-Wandstellens“ zusätzlich verstärkt.

Auch das „Bett“ (2012)im Obergeschoß der VILLAWEISS ist eine ältere Arbeit, die für den Ort neu adaptiert wurde. Die Matratze wurde entfernt, stattdessen wurden Schaumstoffstreifen montiert, die über einen Elektromotor Wellenbewegung hervorrufen und das Bedeutungsspekturm eines Wasserbettes weiterführen. Es sind kleine Eingriffe in vorgefundene Situationen, kluge Kontext- und Bedeutungsverschiebungen, die den Reiz vieler seiner Arbeiten ausmachen. Der Bettvorleger, ein Schaffell, wird in die Wellen geworfen und gemahnt durch seine Flächigkeit und die gleichmäßige Wellenbewegung mehr an einen Rochen als an ein Schaf. Zugleich assoziieren wir mit dem Wellenbett die unterschiedlichen Schlafphasen, die mittels Elektroenzephalografie (EEG) in Wellen gemessen werden (Deltawellen zeigen zum Beispiel den Tiefschlaf an). Unabhängig von den verschiedenen Traumdeutungsmöglichkeiten, was eine Welle bedeuten kann, gelingt es Lenz aus dem Vorhandenen eine neue Bedeutungsebene zu generieren und ein poetisches Bild dafür zu finden.

Wenn es ein Thema gibt, das alle gezeigten Arbeiten der Ausstellung unter einem gemeinsamen Nenner zusammenspannt, so ist dies das Motiv der Welle. Von der Simulation elektromagnetischer Wellen beim künstlichen Regenbogen in „Rainbow Nr. 2“, zur Reflexion der Funkwellen in der unbetitelten Arbeit an der Außenmauer, von den Schallwellen in der Serie der „Musikinstrumente“ zu den wasserähnlichen Wellen im „Bett“ der VILLAWEISS bis hin zu den immer gleichen kreisförmigen Bewegungen des „Schornsteinfegers“. Es bleibt einzig zu hoffen, dass sich die Geschichte, die in den „Freud“-Bildern manifest ist, nicht auch wellengleich wiederholt. Lenz hat ihnen einen Bilderrahmen gegenübergestellt, den er aus einer knapp hundert Jahre alten Transportkiste zusammengebastelt hat, der in einer immer wiederkehrenden Leuchtschrift vom Werden und Vergehen, Sich-Erheben und Verblassen, Anschwellen und Abebben kündet: „rise and pass away“. Damit wird nicht nur die Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit allen Seins zum Ausdruck gebracht, sondern auch der beständige Wandel. Nichts bleibt wie es ist und niemand kann sagen wie es wird.

Roman Grabner, Universalmuseum Joanneum, 2013